Zillertal, Juni - Oktober 2012, Ausgrabungsprotokoll 22/6

Zillertal, Juni – Oktober 2012, Ausgrabungsprotokoll 22/6

fundprotokollzeichnung_linnene_huelle, zillertal 2012, dr. arkadasch, arteologieDer rituelle Charakter dieser Kleinkindmumie tritt zudem deutlich durch Anbringung eines sternartigen Symbols auf der linnenen Einhüllung zutage. Im Bereich des unteren Brustabschnitts und des Abdomens wurde ein aus zwei gleichschenkeligen Dreiecken zusammengefügtes Symbol in Form von Linien aufgetragen. Diese zwei Dreiecke bilden mit ihrer horizontal gespiegelten Fläche in der Überlagerung einen regelmässig wirkenden Stern, dessen innere Fläche von einem Hexagon gebildet wird. Diese hexagonale Form bildet auch der Basalt säulenförmig aus, wenn die Erstarrung der Lava langsam erfolgt. Die symbolische Verbindung zwischen dem die Lagerstätte der „Zilli“ füllenden Basaltsand und der inneren hexagonalen Struktur des den Torso zierenden Sterngebildes erscheint somit evident. Zudem besteht kein verfügbares Basaltvorkommen im Raum Nordtirol und verweist somit deutlich einmal mehr auf die transital bedingte Beeinflussung der indigenen Bevölkerung des Zillertales und auch der gesamten Nordtiroler Bevölkerung. In Verbindung mit den assimilativen Übernahmen von Fertigkeiten und soziokulturellen Intellektstrukturen, die in den vorgefundenen Artefakten ihren deutlichen Niederschlag gefunden haben, wird einerseits die relative Armut an geistiger Innovation und andererseits die Abhängigkeit von externen Beeinflussungen überdeutlich, die in letzter Konsequenz aber dazu geführt haben, dass die sich aus diesen transitalen Begegnungen herausgeformte Mischbevölkerung im Nordtiroler Raum dauerhaft gegenüber den naturbedingten Herausforderungen durchsetzen und somit ihren Habitatsbereich begründen konnte.

Das sternenförmige Symbol wurde mit Hilfe eines riffelartigen Instruments aufgebracht. Die chemische Analyse des verwendeten Farbstoffes ergab eine Zusammensetzung aus Harzen der Bergkiefer (Pinus mugo), der Lärche (Larix), der Europäischen Eibe (Taxus baccata) mit einem ca. 60 %igen Anteil von Russ, einem schwarzen, pulverförmigen Feststoff der durch Verbrennung entsteht und in diesem Fall zu mehr als 99 % aus Kohlenstoff besteht. Die Vermengung dieses Farbstoffes erfolgt durch Erwärmung und Aufkochung, wobei die Zufügung des Russes durch eine allmählich erfolgende Einrührung erst ab Erreichen des Siedepunktes des Harzgemisches und unter Wegnahme der Befeuerung unter ständigem Rühren durchgeführt wird, bis die Farbmischung bei einer Temperatur um 75 ° Celsius jene Konsistenz erreicht, die eine weitere Verarbeitung als Anstrich oder Signaturmaterial ermöglicht.

Durch die relativ hohe Temperatur beim Auftrag konnte die Farbmischung tief in das linnene Gewebe eindringen. Dies zeigt sich sehr deutlich in der unscharfen Randbildung der geführten Zeichenstriche.

Das Gewebe aus Leinen wurde aus heimischen Flachsfasern hergestellt und besticht durch seine äusserst feine Verarbeitung. Die Fadenzahl der Webung beträgt ca. das Doppelte gegenüber vergleichbaren Funden aus dem Alpenraum und belegt auch in diesem Punkt die rituelle Wertigkeit dieses Mumienfundes.

Bereits im frühen Judentum wurde das Hexagon sowohl in der Architektur, der Malerei und der Grafik verwendet. Die Symbolik des Sechsecks fusst dabei auf der Zahl 6, deren Bedeutung sich aus der Summe der ersten drei Zahlen – 1 und 2 und 3 – ergibt und symbolisieren aus der Sicht der jüdischen Religion betrachtet die Allmacht Gottes. Gleichzeitig stehen diese Zahlen und damit das Hexagon aber auch für das Gleichgewicht und die Harmonie des Göttlichen und Weltlichen. Die spätere Übernahme dieses Symbols durch das Christentum wird vor allem in Malereien aus dem Spätmittelalter (vgl. den hexagonalen Tisch im „Paradiesgärtlein“ des Oberrheinischen Meisters; um 1410, Städelsches Kunstinstut) und verschiedenen Sakralbauten (Fresken im Dom zu Pisa. Die sechseckige Kapelle zu Comburg) deutlich.

In der Kleinkindmumie der „Zilli“ vereinen sich somit die maghrebinisch-palästinensischen Wurzeln der biogenetischen Vermengung der indigenen Zillertaler Bevölkerung mit den durch transitalen Austausch übernommenen artifiziellen Fertigkeiten, wobei jedoch deutlich zwischen der strikten Trennung von elitärer Führungsschicht mit ihrem Zugang zu diesen intellektuellen und manifakturellen Ressourcen und der in relativer Wissenslosigkeit und Abhängigkeit vegetierenden gemeinen Bevölkerung zu unterscheiden ist. Gerade die Ausformung der rituellen Kulttraditionen belegt in aller Deutlichkeit die in der indigenen Bevölkerung bis heute  manifest verankerte Deutungshoheit einer hierarchisch bestimmten und im Eigenverständnis somit von höheren Mächten beauftragten, geistigen und geistlichen Elite.